Das Erarbeiten klassischer Musikliteratur

Organ of Santa Maria di Carignano Genoa

Vor nicht ganz eineinhalb Jahren habe ich begonnen, klassische französische Orgelmusik zu spielen. Im Moment erarbeite ich zwei Stücke von Abraham van den Kerckhoven.

Eine Lerntechnik sieht in etwa folgendermaßen aus:

  • Fingersatz erarbeiten und in die Noten schreiben.
  • Rechte Hand, linke Hand und Pedal separat üben, bis alles flüssig läuft.
  • Kombinatorisch immer zwei davon zusammen üben, bis alles läuft.
  • Alle zusammen üben, bis alles läuft.
  • Bei alledem immer den selben Fingersatz verwenden, damit er sich einprägt.

Ich habe das so nie ausprobiert. Aus meiner Erfahrung heraus vermute ich, dass diese Technik zu einer ziemlich guten Wiedergabe dessen führen kann, was auf dem Notenblatt steht.

Aber was ist mit den vielen Dingen, die nicht auf dem Papier stehen, also der Interpretation?

Ich gehe anders vor:

  • Die Muster im Stück suchen, Fingersatz erarbeiten und in die Noten schreiben.
  • Mit beiden Händen und Pedal unter Verwendung des erarbeiteten Fingersatzes immer wieder durch das Stück “quälen”, bis ich die Noten allesamt kenne. Zu diesem Zeitpunkt habe ich den Fingersatz bereits mehrfach überarbeitet.
  • Jetzt kann auch langsam das Metronom zum Einsatz kommen. Damit merke ich abrupt, was ich rhythmisch noch alles falsch mache. Ich versuche mich aber auch nicht abhängig vom Taktgeber zu machen, denn spätestens im nächsten Schritt kommen Ritardandi und Accelerandi hinzu.
  • Jetzt kann ich endlich anfangen, aus den Noten das Stück zu formen. Wo bilde ich Phrasen? Wo setze ich Zäsuren? Wo spiele ich legato? Wo verkürze ich Noten zur Akzentuierung? Wo bringe ich Ornamente (wie Vorschlagnoten, Nachschläge, Triller und so weiter) an? Wo kann ich Notes Inégales einsetzen? Wo will ich beschleunigen, wo verzögern? Das hat sehr viel mit aufkommenden Ideen, Ausprobieren und Verwerfen zu tun. Damit einhergehend muss ich auch den Fingersatz immer wieder anpassen.
  • Immer wieder spielen, spielen, spielen. Irgendwann bin ich auch so weit, dass ich mir selbst dabei zuhören kann. Passt das so? Klingt das gut? Kann der Komponist sich das so vorgestellt haben? Falls nein, was will ich nochmal ändern?

Dieser Prozess dauert bei mit sehr sehr lange. Sobald ich weiß, wie ich das Stück spielen möchte, tendiere ich allerdings auch dazu, es beiseite zu legen und das nächste in Angriff zu nehmen. Oft beginne ich sogar schon mit dem nächsten Stück, während ich am letzten noch am Feilen bin. Was dazu führt, dass ich im Moment keines der Stücke aus meinem Repertoire “auf Zuruf” zuverlässig sauber wiedergeben kann und ich in der Woche vor einem Konzert intensiv nochmal die Stücke üben muss, die ich spielen will.

Das hätte ich gern anders.

Solange ich die Noten auf dem Pult habe merke ich, dass ich immer nur auf die jeweils zu spielende Stelle fixiert bin. Ich habe nicht präsent, was die nächsten paar Takte passieren wird. Weshalb ich immer wieder mal hängen bleibe. Also versuche ich immer einen Takt voraus zu lesen. Das ist allerdings äußerst mühsam, weshalb ich das immer nur für eine gewisse Zeit schaffe.

Im angelsächsischen Raum ist es stärker Usus, ein Konzert ohne Noten zu spielen, also die Stücke auswändig parat zu haben. Das würde ich gerne mal ausprobieren, ist im Moment aber noch mühsamer als das Vorauslesen beim Spielen. Ich habe die Idee daher erstmal beiseite gelegt. Aber nicht vergessen. Wenn ich “meine” Stücke mal etwas besser beherrsche, möchte ich das mal wenigstens an einem probieren. Zumal es das lästige Umblättern an oftmals ungünstigen Stellen im Notenbild komplett eliminieren würde.