Rhythmik in der Orgelmusik – keine leichte Sache

Vor gut zwei Jahren habe ich mit dem Orgelspiel eine Jugendleidenschaft wiederbelebt. Der Einstieg lief, sicher auch aufgrund meiner Pianokenntnisse, besser als erwartet. Dennoch bedeutet es einiges an Arbeit, klassische Literatur auf dem Instrument zu erlernen. Mittlerweile kann ich zwar einige Stücke spielen, allerdings bisher eher leidlich. Einerseits muss ich noch an meiner (Übe)technik arbeiten (ich bin gespannt auf »Techniken des Orgelübens: Die kürzeste Verbindung zwischen Händen und Füßen ist das Gehör« von Barbara Kraus und André Isoir). Andererseits fehlt meinen Stücken noch der saubere rhythmische Fluss, so dass ein Zuhörer gegebenenfalls auch dazu tanzen könnte.

Der letzte Punkt mag überraschend klingen, da ja üblicherweise zur Orgelmusik nicht getanzt wird. Die diesjährige Saison der Vesperales an der Dubois-Orgel in Wissembourg hat uns aber eindrucksvoll zu Ohren gebracht, wie sehr eine gut gemachte Rhythmik (und damit meine ich keineswegs eine maschinenartige Perfektion) den Hörgenuss zu steigern vermag. Daher hat für mich ein durchlaufender Puls, gegebenenfalls mit passenden Beschleunigungen (Accelerando) und Verzögerungen (Ritardando), eine sehr hohe Priorität. Das schreibt sich allerdings viel leichter, als es umzusetzen ist.

Leider ist man als Organist meist auf sich alleine gestellt und erhält keinerlei Unterstützung durch eine Rhythmusgruppe oder andere Mitmusiker. Ich muss daher etliche Hürden nehmen, um meine Rhythmik zu verbessern.

  • Wenn ich an ein neues Stück gehe, suche ich Aufnahmen davon, die ich rhythmisch gelungen finde. Somit bekomme ich ein erstes Gefühl für das Stück.
  • Bevor ich meinen Fokus auf den rhythmischen Fluss richten kann, müssen bereits einige spieltechnische Hürden genommen sein. Ich muss das Stück also bereits ein Stück weit beherrschen.
  • Ich nutze jetzt ein Metronom. Einerseits entdecke ich dadurch Stellen, die ich technisch noch nicht gut genug beherrsche (ich bleibe hängen). Andererseits entdecke ich auf diese Weise (teils haarsträubende) rhythmische Mängel, die mir ansonsten niemals aufgefallen wären.
  • Ich setzte den Gebrauch des Metronoms wieder ab, sobald ich denke, dass die Schwachstellen allesamt ausgebügelt sind. Jetzt kann ich mich um die Agogik, die Variation des Tempos innerhalb des Stückes, kümmern.
  • Äußerst vorsichtig muss ich sein, wenn ich Ornamente (wie Triller, Vor- oder Nachschläge) spiele. Besonders dabei tendiere ich dazu, die betroffenen Noten unzulässig zu verlängern.
  • Bei Stücken, die mit sehr langgezogenen Noten beginnen, gehe ich die ersten Takte immer erst gedanklich durch, um das richtige Tempo zu treffen. Manchmal schreibe ich mir das Tempo auch in die Noten und nehme vor dem Spielen ein Metronom zur Hand, um das Tempo zu treffen. Unterlasse ich das, beginne ich üblicherweise zu schnell und werde dann plötzlich deutlich langsamer, sobald die kürzeren Notenwerte auftauchen. Anfangs erfordert es etwas Mut, den Noten den zeitlichen Wert einzuräumen, den der Komponist vorgesehen hatte. Doch es lohnt sich. Aufgefallen ist mir das vor allem bei zwei Stücken von Kerckhoven.
  • All diese Techniken helfen mir, das Stück schon ganz gut hinzubekommen. Letztendlich zählt jedoch nur, was beim Zuhörer ankommt. Könnte er wirklich dazu tanzen? Während des Spielens kann ich mir zwar ab einem bestimmten Reifegrad eines Stückes selbst zumindest ein Stück weit zuhören, aber ich bin noch immer zu stark mit dem Spielen des Stückes beschäftigt als dass ich wirklich ein gutes Gefühl für den Puls des Stückes bekomme. Ich nehme daher mein Spiel auf, höre es ab und markiere gegebenenfalls die Stellen in den Noten, an denen ich nachbessern muss. Übrigens habe ich durch diesen Schritt auch oft noch meine Registrierung angepasst. Am Spieltisch ist der Klangeindruck nunmal deutlich anders als auf den Plätzen des Publikums. So merke ich auch, ob ich manche Passagen noch weniger legato spielen sollte, da ein ausgeprägter Nachhall das Stück zu einem Klangbrei machen kann, aus dem der Zuhörer die rhythmische Struktur nicht mehr gut heraushören kann.
  • Insbesondere im absolutistischen Frankreich waren Notes inégales weit verbreitet. Die Anwendung ist nicht ganz trivial, aber es hat mein Spiel extrem bereichert. Wenn es dann noch gelingt, eine ganz leichte Inégalite auch auf deutsche Literatur zu übertragen, kann man auch hier dem ein oder anderen Sechzehntellauf zu einer besseren Wirkung verhelfen. Puristen mögen das ablehnen, allerdings gibt es Indizien dafür, dass auch deutsche Komponisten die Technik kannten. Ich bezweifle aber auch, dass sie in Kreisen der Aufführenden weithin bekannt waren.
  • Ein weiteres Hilfsmittel, das ich zugegebenermaßen selten einsetze, ist das laute Mitzählen. Die letzten Takte eines Plein Jeu von Clérambault brachte ich lange nicht zum Klingen. Bis ich Notes inégales zum Einsatz brachte. Das konnte ich nur lernen, indem ich die Triolen laut mitsprach (“Ein-und-die-zwei-und-die-…”).
  • Mittlerweile spiele ich viele Stücke oft deutlich langsamer als andere Organisten. Ich habe mich einmal gegen Ende einer längeren Übesitzung aufgenommen und war fast entsetzt. Ich spielte das Stück in einer Geschwindigkeit, die die Wirkung komplett veränderte. Speziell der Effekt von Notes inégales leidet unter zu hohem Tempo. Auch bei der Interpretation von Tempobezeichnungen der Komponisten versuche ich immer, den Kontext zu betrachten. Ein «Gayement» im Notentext bedeutet beispielsweise so viel wie »Lebhaft«. Das muss aber nicht unbedingt mit einer erhöhten Geschwindigkeit einhergehen. Ähnliches kann für ein mitten im Stück auftauchendes Alla Breve gelten. Obiges Plein Jeu beispielsweise beginnt auf dem Rückpositiv in einem zügigen 2/2-Takt. Der folgende Teil auf dem Hauptwerk ist mit einem Alla breve gekennzeichnet. Glücklicherweise wusste ich aus »Zur Interpretation der französischen Orgelmusik«, dass das Hauptwerk langsam, gebunden und getragen gespielt werden sollte. Alla breve bedeutet in diesem Kontext, dass der Puls gleichbleiben kann, aber im ersten Teil zwei Schläge pro Takt zu zählen sind, im zweiten vier. Faktisch dauert somit ein Takt im zweiten Teil doppelt so lange wie im ersten, nicht halb so lange.

Ob eine brauchbare Rhythmik leichter oder nicht so einfach zu bewerkstelligen ist hängt auch hochgradig vom Stück selbst ab. Unabhängig davon finde ich es äußerst hilfreich, ein gutes Gefühl für die Relation verschiedener Notenwerte zueinander zu haben. Das übe ich mit einfachen Mitteln. Ein Metronom (heutzutage in Form einer App auf einem digitalen Fernsprechgerät) und die Hände auf den Oberschenkeln reichen dazu vollkommen aus. Statt Metronom kann man natürlich auch ein geeignetes Musikstück der Lieblingband zugrundelegen. Über diesen Hintergrund übe ich dann die Pyramide nach Eddy Marron.

Wer dabei noch mehr Spaß haben möchte, kann natürlich auch mit Perkussionsinstrumenten arbeiten. Digitale Geräte, erhältlich etwa mit dem Roland Handsonic oder der Korg Wavedrum, sind nette Spielsachen. Allerdings läuft man dabei ob der verführerischen Klangvielfalt schnell Gefahr, das eigentliche Üben aus den Augen zu verlieren.

Jedesmal wenn ich ein Stück spiele, versuche ich noch etwas zu finden, das ich besser machen kann. Somit braucht es bei mir auch recht lange, bis ich das Ergebnis akzeptabel finde. Das erfordert Zeit und Geduld. Immer wieder erwische ich mich dabei, wie ich gerne das nächste Stück in Angriff nehmen möchte, obwohl die bisherigen noch lange nicht zufriedenstellend laufen. Für den Genuss der Zuhörer ist jedoch die Qualität der Wiedergabe entscheidend. Daher habe ich einige bereits angebrochene Stücke für den Moment komplett beiseite gelegt.